Der Tag war eigentlich gut verlaufen. Der Kleine wirkte zwar immer noch verändert nach seinem traumatischen Sturz vom Donnerstag. Aber als wir wieder zu Hause waren, taute er langsam auf. Teilweise tobte er, wenn auch noch etwas zaghaft, schon wieder um den Esstisch herum, sodass wir ihn erstmal wieder bremsen mussten. Schließlich stand immer noch die Diagnose Gehirnerschütterung im Raum und man hatte uns vor der Entlassung noch einmal ermahnt, die ersten Tage ruhig anzugehen und den Jungen genau zu beobachten. Während ich also Milch und Eier in den Einkaufswagen beförderte, war ich nach dem Schreck der letzten Tage ziemlich sicher, dass jetzt langsam alles wieder seinen gewohnten Gang gehen sollte. Bis mein Handy klingelte.
Meine Frau am anderen Ende klang ziemlich beunruhigt. Sie berichtete, dass der Junge sich beim Essen plötzlich wiederholt übergeben hätte, dass er sich irgendwie merkwürdig verhalten würde und ob ich nicht direkt nach Hause kommen könne? Ich verwarf also die noch nicht ausgestrichenen Posten auf meiner Einkaufsliste und schob meinen schon beachtlichen Großeinkauf direkt zur Kasse. Auf der Heimfahrt bereitete ich mich mental schon mal darauf vor, was wohl in den nächsten Stunden auf uns zukommen würde. Sturz – Gehirnerschütterung – Erbrechen. Der Weg in die Notaufnahme war praktisch schon vorgezeichnet. Man hatte uns im Krankenhaus noch mal eingeschärft, dass wir den Jungen bei Auffälligkeiten auf jeden Fall noch einmal vorstellen sollten.
Kotzendes Kind im Auto hatten wir irgendwie noch nicht
Ich wuchtete meine Einkaufstaschen hoch in den ersten Stock und beim betreten der Wohnung war das Bild, das sich mir bot, ziemlich chaotisch: Hochstuhl vollgebrochen, Mutter mit Kind auf dem Boden sitzend und da es offensichtlich schnell gehen musste, mit einer zum Brecheimer umfunktionierten leeren Spielzeugkiste auf dem Schoß. Die Fakten waren schnell ausgetauscht. Sie hatten gegessen und der Kleine hatte wenig Appetit und war sehr weinerlich. Auf einmal fing er fürchterlich an zu spucken. Allein schon der Blick meiner Frau sagte mir, dass sie das Gleiche dachte wie ich. Ab ins Krankenhaus. Ich wusste nur noch nicht wie. Der Kleine erschien mir erstmal auf Grund des häufigen Erbrechens nicht transportfähig. Wie sollte das bloß funktionieren so fest angeschnallt im Kindersitz? Kotzendes Kind im Auto hatten wir irgendwie noch nicht. Und einfach auf dem Arm halten auf dem Rücksitz? Dafür wird man doch gelyncht, wenn das später rauskommt. Während ich grübelte, nutzte ich die Zeit wenigstens die gekühlten Teile meines Einkaufs in den Kühlschrank zu räumen und zum ersten mal Erbrochenes von meinem eigenen Kind aufzuwischen. Meine Frau guckte mir besorgt dabei zu. Die, die mich kennen, wissen, dass ich schon fast mit kotze, wenn sich jemand im Fernsehen übergibt und ich dies nur aus dem Nachbarzimmer heraus mit anhören muss. Aber heute blieb der Magen erstaunlich ruhig. Scheint was dran zu sein, dass man als Vater mit den gestellten Aufgaben mit wächst.
112 war schnell gewählt
Meine Frau zog inzwischen den Kleinen aus seinen vollgebrochenen Klamotten, vor allem, um das Kind irgendwie in einen transportfähigen Zustand für die Fahrt ins Krankenhaus zu bekommen. Gerade als der letzte Knopf des frischen Bodys einrastete, ging es wieder los: Mutter hebt Kind, Vater springt ihr mit der noch eingekotzten Spielkiste entgegen und, nun ja, fast alles geht in die Kiste. Für meinen Magen war das schon Level 2 und nur eine kurze Blitzmeditation im Angesicht des unvermeidlichen ließ die Peristaltik wieder in den Vorwärtsgang wechseln. Während ich als väterliches Weichei noch mit meinen Luxusproblemen beschäftigt war, wurde meine Frau plötzlich panisch. Der Lütte war mittlerweile wirklich weggetreten. Zwar nicht bewusstlos, wie letztes Mal, aber schon ziemlich apathisch und kaum ansprechbar. Wieder beschlich mich dieses beklemmende Gefühl, dass diesmal wirklich etwas nicht stimmt. 112 war schnell gewählt und wie von selbst beantwortete ich die Fragen des Sanitäters auf der anderen Seite: Name, Adresse, wer ist verletzt… Während ich die Fragen beantwortete, beobachte ich meinen Sohn genau, um wie beim letzten Mal ein Zeichen von Besserung zu erkennen, um das Unvermeidliche noch abwenden zu können. Aber ich fand überhaupt keinen Anhaltspunkt dafür, dass mein Kind nicht sofort Hilfe benötigte. „Was ist passiert?“. „14 Monate alter Junge war 48 Stunden zur Beobachtung nach Gehirnerschütterung im Krankenhaus nach Sturz mit Hinterkopf auf Dielenfußboden. Keine Auffälligkeiten. Heute Morgen entlassen und tagsüber alles in Ordnung. Nun seit etwa einer Stunde mehrmals erbrochen, bei Bewusstsein, nicht ansprechbar und wir sind sehr beunruhigt“, leierte ich kurz und knapp herunter. Der Sanitäter stellte mir noch einige Fragen und ließ mich noch einige einfache Tests ausführen. Als der Junge seinem Lieblingskuscheltier nicht mit den Augen folgen wollte, teilte er mir kurzerhand mit, dass ein Rettungswagen und ein Notarzt schon auf dem Weg seien. Auch wenn mich dieser Aktionismus in diesem Augenblick nicht gerade beruhigte, war ich doch beeindruckt, wie ernst man beim Notruf genommen wird, vor allem wenn es um ein kleines Kind geht. Hier muss ich wirklich eine Lanze für unser Gesundheitssystem brechen. In Dänemark und Australien habe ich schon mitbekommen, wie in ernsten Situationen am Telefon noch diskutiert wurde, ob die Situation ernst genug ist, um Hilfe rauszuschicken.
Vier orangegekleidete Gestalten brachten dann das fertig, was Papa und Lieblingskuscheltier nicht hinbekamen
Der Zustand von unserem Sohn blieb zunächst unverändert. Meine Frau saß nach wie vor mit ihm auf dem Boden und hielt ihn fest im Arm, während er teilnahmslos und kraftlos mit leerem Blick ausharrte. Da mein Vater Arzt und meine Mutter Krankenschwester ist, bilde ich mir als Arztsohn ein, mindestens die Qualifikation eines halben Rettungssanitäters zu haben. Meine Einschätzung der Lage: ernst, aber stabil. Also beschloss ich, dass ich wohl eine größere Hilfe sein würde, wenn ich den gleich eintrudelnden Rettern von der Hamburger Feuerwehr die Navigation durch die unübersichtliche Baustelle vor unserem Haus erleichtern würde. Nach vier Minuten trafen sie ein. Ein Rettungswagen, drei Sanitäter und eine Notärztin. Ich führte sie die Treppe hinauf und erklärte kurz die Lage. Oben angekommen, brachten vier orangegekleidete Gestalten dann das fertig, was Papa und Lieblingskuscheltier nicht hinbekamen. Der leere Blick wich einem ängstlichen, aber auch neugierigem Gewimmer. „Och, der sieht doch eigentlich ganz gut aus“, brach die Notärztin aus. Ich bekam schon rote Ohren und machte mir Sorgen, dass ich gleich den Helikopterpapa-Stempel aufgedrückt bekomme, von Wegen Zeitverschwendung, während andere sterben. Aber nichts dergleichen geschah: Man fragte noch mal genau die Krankengeschichte ab. Diesmal übernahm meine Frau den Erzählpart, sichtlich erleichtert über das Wiederaufblühen ihres Lieblings, und die vier Profis mit zusammen gut 100 Jahren Berufserfahrung waren sich schnell einig, dass man den Kleinen im Krankenhaus doch noch mal unter die Lupe nehmen sollte. Zur Sicherheit würde man ihn sogar direkt im Krankenwagen mitnehmen. Also zogen der Notarzt und sein Assistent direkt wieder ab. Der Kleine kam in seinen Sitz und wurde im Rettungswagen auf die Trage geschnallt. Meine Frau fuhr direkt mit, während ich zurückblieb, um die Krankenhaustasche zu packen.
Als ich eine halbe Stunde später in der Notaufnahme ankam, hatte der Kleine sich schon häuslich eingerichtet. Meine Frau war von oben bis unten vollgekotzt. Die Assistenzärztin von gestern begrüßte mich wie einen alten Bekannten und war gerade mit ihren Untersuchungen fertig. Es könnte wohl auch ein Magen-Darminfekt sein, aber im Zusammenhang mit dem Sturz lässt sich nicht auseinanderhalten, ob die Übelkeit nun mit der Gehirnerschütterung oder einem Infekt zusammenhängt. Daher wieder das gleiche Spiel: Einweisung und 48 Stunden beobachten.
Den Sonntag verbrachten wir im Isolationszimmer
Es ging also direkt in die zweite Runde. Der Aufenthalt wurde noch relativ unangenehm. Man versuchte in der ersten Nacht noch viermal einen Zugang für eine Infusion zu legen, fand jedoch kein passendes Gefäß. Nachdem die Ärzte die Suche nach einem fürchterlichen Geschrei endlich abbrachen und vorschlugen, dass wir es stattdessen doch noch einmal mit Stillen versuchen sollten, verlief die erste Nacht erstaunlich ruhig. Der Verdacht, dass es sich doch um eine Magen-Darm-Grippe handeln könnte, erhärtete sich, als meine Frau in den nächsten Stunden auch über Bauchweh und Übelkeit zu klagen begann. Den Sonntag verbrachten wir daher im Isolationszimmer. Ein Verlassen des Zimmers war den beiden untersagt worden, während ich mich nur nach penibelster Händedesinfektion aus dem Zimmer bewegen durfte, um die Station Abends zu verlassen und zuhause zu übernachten.
Am Montag hatte ich mich krankgemeldet, nachdem mein Magen in der Nacht zuvor schon eindeutige Warnsignale von sich gegeben hatte. Mit einem flauen Gefühl im Bauch machte ich mich auf den Weg, meine Familie wieder nach Hause zu holen. Bei meiner Frau hatte inzwischen die Spuckerei eingesetzt, während der Lütte sich ruhig verhielt. Als wir nach Hause kamen, ging es richtig los. Frau und Kind erbrachen im Wechsel, der Lütte natürlich ohne Rücksichtnahme auf Möbel, Böden, Teppiche oder in der Nähe stehende Personen (ausnahmslos ich). Meine Brechtoleranz hatte sich innerhalb weniger Stunden von Level 2 auf Level 12 weiterentwickelt. Die Pflege meiner beiden Schützlinge verlangte mir einiges ab und ich musste feststellen, dass die Rundumversorgung und das ständige auf den Beinen sein irgendwie meine eigene Erkrankung in Schach hielt.
Während bei dem Kleinen Erbrechen und Durchfall langsam abklangen, war meine Frau noch komplett ausgestiegen und zeitweise kaum ansprechbar. Da ich mir Sorgen machte, dass ich in einigen Stunden ebenfalls komplett handlungsunfähig sein würde, hatte ich für Dienstagabend vorsorglich meine Schwiegereltern gebeten, uns am Abend zu unterstützen. Sie reisten dazu aus Flensburg an. Zum Glück kam ich relativ glimpflich mit Bauchkrämpfen und einigen Durchfallschüben davon, während mein Sohn in der Nacht auf Donnerstag noch einmal die gesamte Sofagarnitur begrünte.
Das Erwachen aus einem einwöchigen Alptraum
Das Aufwachen an einem für Hamburg auch noch ungewöhnlich sonnigen Donnerstag-Vormittag war für uns alle wie das Erwachen aus einem einwöchigen Alptraum. Das der erste Krankenhausaufenthalt zur Hochsaison für Grippe und Magen-Darm-Infekte fast zwangsläufig zu einer Ansteckung führen musste, war in der Rückschau eigentlich nicht verwunderlich. Die Bilanz des ganzen Dramas, das mit einem harmlosen kleinen Alltagsunfall begann: 5 Tage Krankenhaus, ein Rettungswageneinsatz, eine angesteckte Schwiegermutter, 12 Waschmaschinenladungen und 10% Gewichtsverlust bei unserem Kleinen. Der Lütte brauchte noch mehrere Tage, um wieder zu seinem fröhlichen Ich zurück zu finden. Aber am Ende wurde, wie so oft, alles wieder gut. Und es ist dann doch ein gutes Gefühl zu wissen, dass man als kleine Familie wieder eine Grenzerfahrung gut gemeistert hat.
Und was habe ich als Vater aus all dem gelernt?
- Das Unplanbare zu akzeptieren. Mit Kindern, gerade wenn sie anfangen zu Laufen, kann die kleinste Kleinigkeit zu den verrücktesten Auswüchsen führen. Diese Herausforderungen muss man als Bereicherung sehen, an denen man selbst wächst.
- Als Papa schafft man alles, was man als Mann allein nie geschafft hätte. Deine Kinder zeigen dir, dass du plötzlich Dinge schaffst, die du vorher aus Furcht vor dem Scheitern nie angegangen wärst.
- Sich Hilfe holen, auch im Alltag. Nicht nur in Grenzsituationen ist es okay, ja oft sogar vernünftig, sich Hilfe zu holen. Und das Umfeld hilft in der Regel gern. So wird spätestens in solchen Situationen aus der Schwiegerfamilie die eigene, richtige Familie.
- Auf Nummer sichergehen, auch wenn es lächerlich wirkt. Die Verantwortung ist zu groß und ein erster Fehler hat einfach zu große Konsequenzen. Ich bereue meine Notrufe heute nach wie vor nicht, obwohl sich am Ende alles als harmlos herausstellte.