Von Gehirnerschütterungen und Magen-Darm-Infekten (Teil 1)

Von Gehirnerschütterungen und Magen-Darm-Infekten (Teil 1)

Ein ganz normaler Donnerstag-Abend so gegen 19:00 Uhr. Es passierte ganz plötzlich. Nach dem Essen setzte das übliche Reinigungs- und Aufräumprogramm ein. Wir befreiten unseren kleinen Sohn aus seinem Hochstuhl und er machte sich, natürlich Barfuß, direkt auf den Weg zu neuen Schandtaten. Leider war der Boden um den Essplatz herum noch ein wenig feucht, da wir den Fußboden um den Hochstuhl herum nach dem Essen wie immer gewischt hatten. Beim Toben geschah es dann. Die obligatorische Runde um den Esstisch wurde etwas zu wild in Angriff genommen, die Kurve war zu eng und der Junge rutschte aus und lege einen filmreifen Sturz hin, natürlich mit dem Hinterkopf ungebremst auf die Dielen.
Erst sah es so aus, als ob nichts Ernstes passiert war. Doch dann fing der Arme an zu weinen, aber nicht so, wie wir es normalerweise erwartet hätten. Das Weinen war irgendwie verhalten, fast schon zögerlich. Und auf eine merkwürdige Art und Weise war ich plötzlich ziemlich besorgt, als ich meinen Jungen so auf dem Arm seiner Mutter sah. Wir berieten, was wir machen sollten. Meine Frau war komplett aufgelöst. Normalerweise tue ich dieses Verhalten reflexartig als übertriebene Reaktion ab, aber ich konnte mir auf das Verhalten des Jungen diesmal auch keinen Reim machen. Ich nahm ihn in den Arm und dann passierte etwas, was mich fürchterlich schockierte: Er hing schlaff, ja praktisch leblos in meinen Armen, die Augen geschlossen und eindeutig nicht ansprechbar, als wir ihn riefen. Jetzt stieg plötzlich Panik in mir auf und ich war mir sicher, dass die Folgen dieses Sturzes mit Trösten allein nicht zu kurieren sein würden.

Ich hatte schon 112 gewählt und spulte wie ein Automat das Wesentliche ab

Ich übergab das Kind an meine Frau und bekam gar nicht mit, dass mein Sohn inzwischen wieder bei Bewusstsein war. Ich hatte schon 112 gewählt und spulte wie ein Automat das Wesentliche ab, als mein Gesprächspartner sich meldete: Name, Adresse, Kleinkind, 14 Monate, gestürzt auf Hinterkopf, kurz bewusstlos… In dem Moment realisierte ich erst, dass er wieder bei Bewusstsein war; zwar immer noch recht verdattert, aber schon mit einem verhaltenen Lächeln auf den Lippen. Ich beriet mich noch kurz mit dem Sanitäter am Telefon und klärte ihn auf, dass sich die Lage inzwischen entspannt hatte und dass wir jedoch noch sehr besorgt waren. Wir einigten uns dann nach einer Reihe von Fragen zum Zustand des Kindes darauf, dass wir keinen Rettungswagen benötigten, aber dass wir unseren Sohn auf jeden Fall direkt im Krankenhaus vorstellen sollten, um sicherzugehen, dass nichts schlimmeres passiert war.

Grippe und Magen-Darm sorgten für volle Ränge im Konzert der Rotznasen und brechenden Kinder

Also packten wir das Wichtigste zusammen, zogen uns an und machten uns auf ins nächstgelegene Krankenhaus. In der Notaufnahme war natürlich die Hölle los. Die sagenumwobene Grippe und ein Sammelsurium an Magen-Darm-Infekte trieben offensichtlich in Hamburg ihr Unwesen und sorgten für volle Ränge im Konzert der Rotznasen und brechenden Kinder. Eine halbe Stunde später fanden wir uns im Untersuchungsraum wieder und eine junge Assistenzärztin schaute sich unseren Sohn an. Der Unfallhergang war schnell erzählt und die Ärztin hörte sich alles in Ruhe an, während sie den Kleinen untersuchte. Erst als wir von der Bewusstlosigkeit des Jungen berichteten, wurde sie plötzlich sehr nachdenklich. Ob er erbrochen hätte? Nein. Ob er sich ansonsten anders als sonst verhielt? Kurz nach dem Sturz wirkte er verändert, aber inzwischen nicht mehr. Ihr Entschluss stand sofort fest. Sie würden ihn für 48 Stunden zur Beobachtung dabehalten. Mit Gehirnerschütterungen ist bei Kleinkindern offenbar nicht zu spaßen und vor allem vor dem Hintergrund der Bewusstlosigkeit wollte man sichergehen, dass keine Komplikationen auftreten.
Während meine Frau und mein Sohn also auf der Kinderstation eincheckten, machte ich mich also noch mal auf den Weg nach Hause, um Klamotten und Spielzeug für die beiden zu holen. Als ich im Krankenhaus ins Zimmer kam, war die Schwester schon dabei meinen Lütten zu verkabeln, um über Nacht seine Vitalfunktionen überwachen zu können. Da es inzwischen schon weit nach 22 Uhr war, machte ich mich auf den Weg nach Hause, damit die beiden sich ausruhen konnten. Es war schon ein mulmiges Gefühl die beiden so zurückzulassen. Vor allem als ich die Szenerie zu Hause betrat – der Tisch noch halb gedeckt, das Chaos in der Küche. Ich räumte erst mal auf und rief meinen Chef an, dass ich am nächsten Tag einen Home-Office-Tag einlegen würde. Falls doch noch was passiert, wollte ich lieber in der Nähe sein.

Von Gehirnerschütterungen und Magen-Darm-Infekten (Teil 1)

Zum ersten Mal spürte ich diese drückende Verantwortung

Das einzig Gute, was ich dem abgewinnen konnte, war, dass ich mich nicht mehr so bescheuert fühlte. Um ein Haar hätte ich Feuerwehr und Notarzt mobilisiert, um einen kleinen Jungen nach einem harmlosen Sturz beim Spielen mit Blaulicht und Sirene ins Krankenhaus zu bringen. Ich hatte auf dem Weg ins Krankenhaus noch richtig Oberwasser und dachte, dass es eine weise und besonnene Entscheidung war, die Aktion abzublasen. Schließlich wollte ich weder der überbesorgte Papi noch der großstädtische Helikoptervater sein, der für seine Kinder unbegrenzte Sicherheit und Vorsorge auf Kosten der Allgemeinheit einfordert. Inzwischen wirkte mein ursprünglicher Plan aber gar nicht mehr so abwegig und ich war einfach nur heilfroh, dass bis hierhin alles gut gegangen war. Zum ersten mal spürte ich diese drückende Verantwortung, von der viele Eltern immer berichteten, die man selbst aber nicht richtig ernst nahm bzw. nachvollziehen konnte. Und diese nagenden Gewissensbisse. Nein, nicht weil wir einen Fehler gemacht hatten und den Sturz nicht verhindern konnten. Das hatte ich von Anfang an in der Kategorie „Passiert, alles gut gegangen, draus lernen und weitermachen“ abgelegt. Hatten wir richtig gehandelt? Was wäre vielleicht passiert, wenn wir einfach zu Hause geblieben wären und abgewartet hätten? Ein Unglück passiert, man kann es einfach nicht ändern. Aber was passiert, wenn man direkt im Anschluss Fehlentscheidungen trifft? Ich glaube, dass man sich davor nur schützen kann, wenn man sich eine besonnene Grundeinstellung antrainiert, dabei aber auch ein gewisses Maß an Übervorsichtigkeit an den Tag legt. Sprich, man sollte akzeptieren, dass kleinere Unglücke im Alltag mit Kindern passieren, aber man sollte lieber einmal zu viel ins Krankenhaus fahren, als einmal zu spät.

 

Von Gehirnerschütterungen und Magen-Darm-Infekten (Teil 1)

 

Der nächste Tag verlief ruhig. Freitagabend machte ich mich auf den Weg in die Klinik. Es war eine gesellige Runde. Ein weiterer Junge, mit 2 Jahren schon etwas älter, hatte im Großen und Ganzen das Gleiche durchgemacht und war auch mit seiner Mutter zur Beobachtung dort. Sie hatten sich nett eingerichtet, die Kinder spielten zusammen und die Mütter regten sich über die ganzen Magen-Darm-Fälle auf, die auf der Station offenbar ein gewaltiges Ansteckungspotential mit sich führten. Wir verbrachten den Abend zusammen und die Schwester stellte uns schon mal in Aussicht, dass es am nächsten Morgen wohl nach Hause gehen könnte.
Am Samstagmorgen holte ich die beiden ab und wir fuhren nach Hause. Die letzten Untersuchungen und das EKG über Nacht hatten keine Auffälligkeiten gezeigt. Wir scherzten schon wieder und erholten uns langsam von dem Schrecken, der uns widerfahren war. Und der Kleine war ja bereits am Vortag wieder gut drauf gewesen. Wir schworen uns, nie wieder die Kombination aus feuchten Böden und Barfußlaufen zuzulassen. Vor allem meine Frau machte sich Vorwürfe und wollte ihn zunächst gar nicht mehr herumtoben lassen. Wir waren uns aber schnell einig, dass übertriebene Vorsicht die denkbar schlechteste Konsequenz wäre, die wir aus der ganzen Affäre ziehen könnten. Schließlich würden wahrscheinlich noch so einige Stürze, geprellte Gliedmaßen und aufgerissene Hautpartien auf uns zukommen. Wir beschlossen also, den Samstag dieses Wochenende besonders ruhig anzugehen und dachten, dass die Sache damit ausgestanden wäre. Jedoch weit gefehlt. Als mich meine Frau am Samstagabend beim Einkaufen anrief und mich bat, sofort nach Hause zu kommen, ahnte ich schon: Für unsere kleine Unaufmerksamkeit würden wir in den nächsten Tagen noch richtig büßen müssen.

 

Fortsetzung folgt….